„Wie können Familiengerichte Schauplatz solch ungeheuerlicher Formen von Gewalt gegen Mütter und Kinder sein, und das völlig ungestraft?“

Rede von Reem Alsalem vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf am 22. Juni 2023

Auf der 53. Sitzung des UN Menschenrechtsrats in Genf stellte Reem Alsalem, Sonderberichterstatterin zu Gewalt gegen Frauen und Mädchen, ihren Bericht „Custody, violence against women and violence against children“ öffentlich vor. In diesem Bericht thematisiert sie die große Gefährdung von gewaltbetroffenen Müttern und Kindern vor Familiengerichten – weltweit, auch in Deutschland! – durch das Pseudokonzept „Parental Alienation“ / „Eltern-Kind-Entfremdung“ und vergleichbaren Konzepten (in Deutschland meist: „Bindungsintoleranz“).

In ihrer so kurzen wie wichtigen Rede geht sie unter Punkt 5) klar auf die misogyne Wurzel dieser Konzepte ein und benennt die bestehende Praxis an Familiengerichten gegenüber gewaltbetroffenen Müttern und Kindern als Menschenrechtsverletzung. Wir haben den Auszug ihrer Rede auf deutsch übersetzt und stellen ihn hier zur Verfügung, um Sprachbarrieren abzubauen und ihn auf diese Weise so vielen Menschen wie möglich zugänglich zu machen. Der Originalstream der Sitzung auf Englisch kann hier angesehen werden. – English text version below –

Deutsche Übersetzung

„Ich habe während meiner zehnjährigen Tätigkeit als Mandatsträgerin einen prinzipienfesten und kohärenten Ansatz in allen Fragen verfolgt, auch wenn dies für mich persönlich mit einem hohen Preis verbunden war, da ich für meine Arbeit als unabhängige und unparteiische Expertin verunglimpft und angegriffen wurde. Die Auseinandersetzung mit dem Spannungsverhältnis zwischen verschiedenen Rechteinhabern ist eine komplexe, aber notwendige Aufgabe, vor der wir als Mandatsträger meiner Meinung nach nicht zurückschrecken sollten. In der Tat sollten wir aktiv zu solchen Gesprächen mit Staaten und nichtstaatlichen Akteuren beitragen, um konkurrierende Rechte, die in den Bereich unserer Mandate fallen, auszugleichen.

Mit diesen Grundsätzen oder Arbeitsweisen im Hinterkopf habe ich mich entschlossen, meinen thematischen Bericht an den Menschenrechtsrat der Frage des Sorgerechts für Kinder und seiner Verknüpfung mit dem Problem der Gewalt gegen Frauen und Kinder zu widmen.

Im Zusammenhang mit Sorgerechtsfällen gibt es eine vielschichtige Gewalt, die noch nicht als Menschenrechtsproblem in das kollektive Bewusstsein der internationalen Gemeinschaft vorgedrungen ist. Eine davon ist die Gewalt, die sich vor allem gegen eine Gruppe von Frauen richtet, nämlich gegen Mütter. Eine Gruppe von Frauen, deren Anliegen der Menschenrechtsrat meiner Meinung nach nicht so oft anspricht, wie er es vielleicht sollte. Und innerhalb dieser Gruppe sind Frauen, die bestimmten Minderheitengruppen angehören, darunter indigene Frauen, Migrantinnen, Frauen mit Behinderungen und andere, besonders gefährdet, Opfer solcher Gewalt zu werden.

Ein weiterer Aspekt ist natürlich die Gewalt gegen Kinder. Und der beunruhigendste Teil sind die vorsätzlichen Anordnungen von Gerichten, ein Kind zu einem misshandelnden Elternteil zurückzubringen, selbst wenn es glaubwürdige Beweise für Gewalt gibt und nur deshalb, weil der Kontakt zu diesem Elternteil als wichtiger erachtet wurde als alle anderen Überlegungen, einschließlich der Sicherheit des Kindes. Wie, Herr Vizepräsident, kann es sein, dass solche Praktiken tagtäglich direkt vor unserer Nase stattfinden? Wie können Familiengerichte Schauplatz solch ungeheuerlicher Formen von Gewalt gegen Mütter und Kinder sein, und das völlig ungestraft? Wie können sie zu einem derartigen Dauerzustand des Leidens und zu einem solch kolossalen Justizirrtum durch Institutionen führen, die eigentlich Gerechtigkeit herstellen und die Opfer schützen sollen?

Die kurze Antwort ist, dass strukturelle und tief verwurzelte geschlechtsspezifische Voreingenommenheit in Familiengerichten grassiert, die meist, ich wiederhole, gegen Mütter arbeitet. Das führt dazu, dass sie das Sorgerecht für ihre Kinder ganz oder teilweise verlieren, egal, was sie tun, und stürzt sie in eine Spirale der Qual, der Verzweiflung und des Leids, weil sie den Kontakt zu ihren Kindern verlieren oder mit ansehen müssen, wie ihre Kinder in Situationen der Unsicherheit und Gewalt, einschließlich psychischer und physischer Gewalt, gefangen bleiben. Ein weiterer Faktor, der eindeutig eine Rolle spielt, ist das anhaltende Versagen der Justiz sowie der Familien- und Kinderexperten, die bereits bestehenden Realitäten der häuslichen Gewalt gegen Frauen und Kinder, einschließlich Situationen der Zwangskontrolle, zu erkennen und zu berücksichtigen. Andernfalls würden die Gerichte die gegen einen Elternteil erhobenen Anschuldigungen, er würde seine Kinder dem anderen Elternteil entfremden, als das erkennen, was sie sind: eine absichtliche Taktik, um von der schädlichen Dynamik abzulenken, die im Haushalt herrscht und die eine Fortsetzung der Gewalt darstellt, unter der andere Familienmitglieder, wiederum in der Regel Mütter und oder ihre Kinder, bereits leiden.

Ein weiteres großes Manko ist, dass es bei Sorgerechtsverfahren nach wie vor an kindgerechten Ansätzen fehlt, die das Wohl des Kindes im wahrsten Sinne des Wortes in den Mittelpunkt stellen. Schließlich lassen sich die Entscheidungen von Richtern und Sachverständigen nicht ohne Weiteres zusammenstellen und analysieren. Viele von ihnen sind für Forscher und politische Entscheidungsträger tabu, was es sehr schwierig macht, risikobehaftete Trends zu erkennen. Trotz dieser Herausforderungen argumentiere ich in dem Bericht, dass es viele Maßnahmen gibt, die die Staaten ergreifen können, um den seit langem bestehenden Schaden für Einzelpersonen, Familien und Gesellschaften rückgängig zu machen, unter anderem durch

  • die Verbesserung des Zugangs von Frauen und Kindern zur Justiz, wobei unbestätigte und unbegründete Rahmenbedingungen und Konzepte, die in ihrem Kern frauenfeindlich sind, beiseite gelassen werden sollten
  • Verbesserung der Erfassung relevanter Daten und
  • Überarbeitung des Haager Übereinkommens über die zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentführung, um in der Lage zu sein, sich mit Fällen von Frauen und Kindern zu befassen, die im Rahmen von Sorgerechtsstreitigkeiten vor Gewalt fliehen, um ihre Sicherheit zu gewährleisten..

Ich fordere die Staaten zum Handeln auf, wenn sie nicht nur Einzelpersonen, sondern auch Familien vor dauerhaftem Schaden bewahren wollen, auch wenn diese Familien nicht der romantischen Vorstellung einer idealen Familienstruktur entsprechen, in der ein Kind ungeachtet aller anderen Überlegungen Kontakt zu beiden Elternteilen hat.

Ich danke Ihnen.“

Original English Version

„By taking a principled and coherent approach to all issues I have addressed during my ten years as mandate holder, even when it has come at a high price for me personally, as I have found myself vilified and attacked for carrying out my work as an independent and impartial expert. Addressing the tension of rights between different rights holders is a complex, but necessary exercise and something I believe, as mandate holders we should not shy away from. Indeed, we should actively contribute to such conversations with states and nonstate actors with the aim of balancing competing rights that fall within the ambit of our mandates.

So it is with these principles or ways of working in mind that I chose to dedicate my thematic report to the Human Rights Council to the issue of child custody and its nexus with the issue of violence against women and children. Within the context of child custody cases, there exists multilayered violence that has yet to enter into the collective conscience of the international community as a human rights issue. One is the violence that is perpetuated primarily against a group of women, namely mothers. A group of women whose concerns the Human Rights Council does not address, in my opinion, as often as it perhaps should. And within this group, women belonging to specific minority groups, including indigenous women, migrant women, women with disabilities, amongst others are at particular risk of such violence.

The other, of course, is the violence perpetuated against children. And the most troubling part is the deliberate orders issued by courts to return a child to an abusive parent, even when there is credible evidence of abuse and only because contact with that parent was considered more important than any other consideration, including the safety and security of that child. How, Mr. Vice President, can practices such as these be taking place day in and day out, right under our noses? How can family courts be the scene of such egregious forms of violence against mothers and children with such total impunity?

How can they result in such a perpetual state of suffering and result in such colossal miscarriage of justice by institutions that are meant to realize justice and protect victims? The short answer is that structural and deeply embedded gender bias is rampant in family courts that mostly, I repeat, work against mothers. It leads them to lose partial or full custody of their children, no matter what they do, throwing them into a spiral of agony, despair, suffering at losing contact with their children or seeing their children remain trapped in situations of insecurity and violence, including psychological and physical violence. The other factor that’s clearly at play is the continued failure of the judiciary as well as family and child experts to identify and consider already existing realities of domestic violence against women and children, including situations of coercive control. Otherwise, courts would see the accusations that are levied against the parent, that they are alienating their children from the other parent for what they are: a deliberate tactic to divert attention from the harmful dynamics that are at play in the household and is a continuum of the violence that other family members, again, usually mothers and or their children, are already suffering.

The other main failure is that child custody processes continue to lack child sensitive approaches that center the best interest of the child in its truest meaning. Finally, decisions made by court judges and experts do not lend themselves easily to collation and analysis. Many of them are off limit for researchers and policymakers, making it very difficult to detect riskinfected trends. Yet, despite these challenges, I argue in the report that there are many actions that states can take to reverse the longstanding harm done to individuals, families and societies, including by

  • Improving the access of women and children to justice
  • Leaving aside unconfirmed and unfounded frameworks and concepts that are misogynistic at their core
  • Improving the collection of relevant data
  • Revising the Hague Convention on the Civil Aspects of International Child Abduction to be able to deal with the cases of women and children that are fleeing abusive situations in the context of child custody disputes for their safety.

I urge states to act if they want to protect not only the individuals, but also families from lasting harm, even if these families do not fall within the romanticized notion of an ideal family structure whereby a child is in contact with both parents, irrespective of any other consideration.

I thank you.“

Foto von Gül Işık / pexels

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