Was Kinder im Wechselmodell erleiden

Erfahrungen mit dem Wechselmodell gibt es auch in Deutschland, allerdings werden dazu bisher keinerlei Daten erhoben. Daher ist es schwer, solch dringende Fragen zu beantworten wie: Sind Kinder in Wechselmodellen glücklich? Ist die exceltabellenkonforme Aufteilung von Zeit auf Elternteile dem Kindeswohl dienlich? Besser: Lässt Kinderliebe sich in Zeiteinheiten messen und gerecht verteilen? Aussagekräftige Studien dazu gibt es ebenfalls kaum.

Wechselmodell was dagegen spricht
Die Diskussion um das Wechselmodell reißt in Deutschland nicht ab. Oft krankt sie daran, dass darin meist die Interessen der Eltern gesehen und gegeneinander abgewogen werden, und teils von Gerichten solche Modelle angeordnet. Aber auf welcher Basis eigentlich? Auf Basis von Gesetzen, natürlich. Reichen die aus, um eine solche Situation für ein Kind adäquat zu beurteilen? Auch langfristig?

Folgen von Wechselmodellen zu wenig erforscht

Ein deutscher Familienrichter verfügt qua Ausbildung über exakt null Wissen über z.B. Entwicklungspsychologie oder Psychotraumatologie bei Kindern. (Weshalb inzwischen zahlreiche Familienrichter hier zurecht Nachbesserung fordern. Justizministerin Barley mag das Thema aktuell aber nicht weiterverfolgen, da die Länder das ablehnen.)*
Die deutschsprachige Studienlage zum Thema Wechselmodell: Ebbe. Es gibt bisher keine einzige Studie aus Deutschland, die substanziell etwas zu der Beantwortung der Frage beitragen könnte: Wie geht es Kindern in einem Wechselmodell? Gar in Langzeit? Von gerichtlich verordneten Zwangswechsellmodellen reden wir an dieser Stelle noch nicht. (Und über die hohen Voraussetzungen für ein Wechselmodell erst recht nicht.)

Es mehren sich allerdings die Hinweise und Äußerungen von einstigen Pendelkindern, die heute volljährig sind (ja, die gibt es), die das praktizierte Wechselmodell retrospektiv für sich selbst für überhaupt nicht gut erachten. Zahlreiche Wechselmodell-Eltern berichten seit Jahren, dass Kinder im Teeniealter das ständige Wechseln leid sind, und sich für einen Elternteil als festen Lebensmittelpunkt entscheiden. Das mag u.a. daran liegen, dass sie sich in diesem Alter besser einschätzen und mehr Gehör verschaffen können. Aber auch nicht alle Teenager schaffen es, ihre eigenen Bedürfnisse ernst zu nehmen und adäquat zu kommunizieren – oft, weil sie immer noch in einem Loyalitätskonflikt stecken.

Wie gesagt: Die Studienlage zu dem Thema ist sehr dünn bis kaum existent. Nicht nur in Deutschland, auch international haben sich Psychologen, Psychiater, Soziologen et al. bisher kaum mit der Thematik von Zwangswechselmodellen beschäftigt. Auch für freiwillige Wechselmodelle gibt es bisher keinerlei Langzeitbetrachtungen. Andererseits wimmelt es von Studien zu Wechselmodellen, auf deren erhobener Basis gar keine Rückschlüsse für die derzeit laufende gesellschaftliche und politische Diskussion möglich sind. Trotzdem wird es von bestimmten Interessensgruppen mit Verweis auf ebendiese Studien behauptet. Prüft ja eh keiner nach. (Doch – wir.)

Ergebnisse bestehender Studien werden falsch ausgelegt

Eine breit vermarktete und daher oft zitierte Studie ist eine Art Meta-Studie („kumulativ“) von Linda Nielsen. Nielsen, ihres Zeichens US-Väterlobby-Wissenschaftlerin, hat darin versucht, aus bestehenden, rund 60 international verfügbaren Studien, die sich weitläufig mit Wechselmodellen befassten, eine Art Surrogat zu schaffen und daraus gebündelte Aussagen und Schlussfolgerungen für die aktuelle Forschungslage zu ziehen.

Das Problem: Keine einzige der berücksichtigten Studien befasste sich konkret mit langfristigen Wechselmodellen oder mit Zwangswechsellmodell-Kindern – also Kindern, denen gerichtlich oder anderweitig ein Wechselmodell „verordnet“ wurde – und den daraus folgenden Konsequenzen für diese Kinder. Learning: Die bisherige Datenlage all dieser berücksichtigten Studien lässt überhaupt keine Rückschlüsse auf die Situation von Kindern in angeordneten Wechselmodellen zu – die aber auf Betreiben der FDP zum Regelfall für alle werden sollen. Wenn überhaupt, können daraus maximal Aussagen abgeleitet werden, die freiwillige Wechselmodelle betreffen. Und dies auch nur als Momentaufnahme, nicht in Langzeitbetrachtung.

Erkenntnisse zu alarmierenden Folgen von Wechselmodellen werden bisher ignoriert

Was in der öffentlichen und politischen Kommunikation bisher nirgendwo Erwähnung findet, sind zum Beispiel die Erkenntnisse aus 10 Jahren Forschung des französischen Kinderpsychiaters und außerordentlichen Professors für Kinderpsychopathologie in Lyon, Maurice Berger. Er war Mitglied mehrerer ministerieller Kommissionen zum Thema Kinderschutz in Frankreich und macht sich seit Jahren stark gegen eine Einführung eines Wechselmodells als Regelfall – begründet auf der Basis seiner Forschungserkenntnisse. Er ging sogar so weit, eine Petition für ein Verbot der gerichtlichen Anordnung von Wechselmodellen für Kinder unter 6 Jahren zu initiieren: Weil die Ergebnisse seiner Forschung ihn alarmierten. 4.000 Kinderpsychiater und Kinderärzte in Frankreich unterzeichneten die Petition.

Doch nicht nur Kinder in oktroyierten Wechselmodellen sind in ihrer seelischen wie physischen Gesundheit gefährdet; selbst Kinder in freiwilligen Wechselmodellen beurteilen als Erwachsene rückblickend diese – für die Eltern (!) gerechte – Lösung als für sich unpassend.

In einem Aufsatz zitiert Berger die Mutter aus einer Wechselmodell-Familie mit ihrer Tochter. Als diese 18 ist und nach dem Abitur wegziehen wird, bittet sie ihre Eltern zu einem Gespräch (Anm.: Übersetzung durch Mia e.V.):

„Ich habe mich an dieser Schule (weit weg von unserer Stadt) eingeschrieben, und von nun an werde ich zu euch kommen, wenn ich mich dazu entscheide. Ihr wart gute Eltern, aber ihr habt mir jahrelang ein Nomadenleben aufgezwungen, in dem ich nie „zu Hause“ war, und ihr habt euch nie gefragt, was ich durchmachen könnte.“
Wir waren erstaunt… wir waren tausend Meilen davon entfernt zu denken, dass sie unter dem Wechselmodell leidet.
Nach dem ersten Schock fragten wir sie, warum sie es uns nicht gesagt hatte. Sie behauptete, dass sie versucht habe, uns „die Botschaft zu vermitteln“, dass wir aber taub und blind geblieben seien, und dass es nicht ihre Aufgabe sei, eine Entscheidung zu erzwingen, sondern an uns, ihren Eltern, zu verstehen, was sie durchmachen könne. Es gibt keinen Grund, Ihnen zu verschweigen, wie erschüttert wir waren. Seitdem haben wir viel miteinander geredet und haben ihr unser Bedauern darüber mitgeteilt, dass wir ihr dieses Leben auferlegt haben, als wir dachten, die richtige Entscheidung für sie getroffen zu haben.

Diese Äußerung steht stellvertretend für viele weitere, von denen wir auch in Deutschland inzwischen Kenntnis haben. Wie vielen Kindern wollen wir das künftig noch zumuten?

Wir fordern die Politik und die Bundesregierung auf, sich inhaltlich mit der Studienlage zu befassen und auch auf ihre Qualität und Aussagekraft hin zu prüfen. Veranlassen Sie wissenschaftliche Untersuchungen für Deutschland, die sich mit den Folgen bereits bestehender, auch angeordneter, Wechselmodelle für das Kindeswohl befassen. Erst wenn wir fundierte Daten vorliegen haben, ist eine sachliche Beurteilung überhaupt möglich.

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* Auf die äußerst schwierige Lage des Gutachter- und Verfahrensbeiständewesens an deutschen Familiengerichten gehen wir an dieser Stelle nicht näher ein, um den Rahmen nicht zu sprengen. An dem Thema Interessierte können gerne bei Tewes weiterlesen.

photocredit: Bess Hamiti / ISOrepublic

Wechselmodell was spricht dagegen

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